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Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten…

Juli 14, 2011

…sagte Walter Ulbricht, damals Staatsratsvorsitzender der DDR, knappe zwei Monate, ehe am 13. August 1961 die deutsche Teilung durch in einer Nacht- und Nebelaktion errichtete Sperranlagen zementiert wurde.

„Niemand darf auf der Strecke bleiben“, sagt Frank-Jürgen Weise, seines Zeichens Chef der Bundesagentur für Arbeit, aus der er „ein erfolgreiches Unternehmen“ gemacht haben will, im Zeit-Interview. Auszug:

‚ZEIT ONLINE: Der Aufschwung, sagen Kritiker, hatte einen Preis: Eine zunehmende Zwei-Klassengesellschaft am Arbeitsmarkt. Auf der einen Seite Menschen mit festem, unbefristetem Job, auf der anderen Seite zunehmend prekärere Beschäftigung.

Weise: Ich bin anderer Meinung. Es gibt diese Gräben nicht. Sie sind zumindest nicht so tief, wie immer getan wird.

ZEIT ONLINE: Warum nicht?

Weise: Im Verarbeitenden Gewerbe haben wir heute noch immer genauso viele stabile Jobs wie früher. Das normale Vollzeitarbeitsverhältnis ist nicht weniger geworden. Was stimmt: Bei zusätzlichen Jobs, die in den letzten Jahren entstanden sind, gibt es heute mehr atypische Beschäftigung, also mehr Teilzeit, mehr Befristungen, mehr Zeitarbeit. Wir haben deshalb so viel Beschäftigung wie noch nie!

ZEIT ONLINE: … und zwei Klassen von Arbeitnehmern.

Weise: Aber diese neuen Jobs – etwa in der Zeitarbeit – sind zusätzlich. Man kann da nicht von Gräben sprechen. Wir müssen die Entwicklung aber genau beobachten. Für mich wäre es ein Indikator, wenn die Zahl der Menschen, die in der Zeitarbeit arbeiten, von derzeit einer auf zwei Millionen springen würde. In Amerika ist die Zeitarbeit drittgrößter Arbeitgeber. Da wollen wir nicht hin.

ZEIT ONLINE: Und der Boom bei den 400-Euro-Jobs?

Weise: Den gibt es doch gar nicht. Die Zahl der 400-Euro-Jobs ist nicht wesentlich gestiegen. Aber in den haushaltsnahen Beschäftigungsformen ist Schwarzarbeit häufig legalisiert worden. Das ist ein Erfolg.‘

Nachdem Arbeitgeberfunktionär Dieter Hundt schon vor Jahren festgestellt hat, dass eine „Generation Praktikum“ eine Erfindung irgendwelcher linksradikaler Spinner sei, verdanken wir dem unternehmerisch denkenden Herrn Weise nun also die Erkenntnis, dass es weder eine Spaltung der Gesellschaft durch eine sich immer weiter öffnende Einkommensschere, noch einen Anstieg prekärer Beschäftigung gibt.

Lieber Herr Weise: Es bleiben Menschen auf der Strecke. Und zwar nicht nur die 400.000 Langzeitarbeitslosen, von denen Sie an anderer Stelle reden, sondern Millionen, deren Lebenspläne und Entwicklung unterschiedlichsten Formen prekärer Beschäftigung wie Zeitarbeit, Billiglohnjobs, befristete Stellen, Praktika, Minijobs, Kleinselbständigkeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen usw. zum Opfer fallen. Getrost hinzurechnen dürfen Sie auch all jene, die arbeiten möchten, aber nicht offiziell bei Ihrem „Unternehmen“ registriert sind. Die Ausgrenzung, die es Ihrer Meinung nach nicht gibt, kennt viele Namen, aber nur ein Ergebnis: Die Prekarisiserung Unzähliger.

Sie sagen, Deutschland sei nicht ungerechter geworden. Ich weiß nicht, wie Sie in einem Land von Gerechtigkeit sprechen können, in dem Erwerbstätige noch in meiner Kindheit Familien ernähren, Häuser abbezahlen, die Ausbildung ihrer Kinder sichern und in die eigene Altersvorsorge einzahlen konnten, während ein Vollzeit-Einkommen heute oft gerade eben die Lebenshaltungskosten deckt, falls nicht gleich ergänzend Hartz 4 beantragt werden muss – die Diffamierung gibt es dann natürlich gratis dazu. Deutschland ist genau so gerecht, wie der seit Ende der 90er praktizierte ungezügelte Marktradikalismus es nun einmal zulässt.

Ich erinnere mich noch genau an die Umbenennung Ihres so vorbildlich geführten „Unternehmens“ von „Bundesanstalt für Arbeit“ in „Bundesagentur für Arbeit“. Anstalt, so dass Argument, sei ein gar so negativ konnotiertes Wort, und überhaupt wolle die neue Dienstleistungsorientierung und die Wahrnehmung des Arbeitssuchenden als „Kunde“ nach außen kommuniziert werden. Ein Redakteur des Satiremagazins Titanic konstatierte damals nüchtern eine wachsende Anzahl von Verantwortungsträgern in unserer Republik, die offenkundig reif für die Irrenagentur sei.

Wartet nun die Umbenennung in „Work & Social Services Holding“ o.ä.? Namen, sagt man, seien Schall und Rauch. Jemand, der Euphemismen gebraucht, um unhaltbare Zustände zu verschleiern, der sich die Dinge schönredet, mag ein Opportunist, ein Träumer sein, bei wohlwollender Betrachtung sogar noch als Idealist durchgehen.

Wer allerdings die Prekarisierung weg- und den Fachkräftemangel herbeiredet, ist nichts von alledem. Der ist entweder schlicht unfähig, oder aber  ein ganz gewöhnlicher Lügner. Und ich weiß nicht, ob ich lieber von Idioten oder von Lügnern regiert und gelenkt werden möchte.

Die wachsende Zahl wütender Kommentare unter Einlassungen wie denen von Herrn Weise zeigt aber auch, dass immer weniger Menschen gewillt sind, sich für dumm verkaufen zu lassen. Laut Herrn Weise hat niemand die Absicht, das Land ungerechter zu machen. Das ist auch nicht nötig, denn es ist schon ungerecht. Es benachteiligt, selektiert, enteignet und macht dabei nicht Halt vor Kindern, Jugendlichen, Kranken, Arbeitslosen, älteren Menschen und anderen Gruppen, die sich am wenigsten wehren können.

Und wer das anprangert, wer sich weigert, sich von gefälschten Zahlen überzeugen zu lassen, der ist für Herrn Weise und seinesgleichen eine Fortschrittsbremse und ein Ewgiggestriger: „Es gibt immer Menschen, die Veränderungen als ungerecht ansehen.“ Tja. Und dann gibt es natürlich die Hundts, die Weises, die Brauksiepes und wie sie alle heißen, die – mitsamt Familie vollversorgt bis ans Ende ihrer Tage – dem Pöbel die Fähigkeit absprechen, zu erkennen, wann er – man möge mir die Wortwahl verzeihen – nach Strich und Faden verarscht wird. Generation Praktikum? Gibt es nicht. Prekarisierung? Auch nicht. Wachsende Zahl von Minijobs? Einzelfälle.

Aber Gott sei Dank: Niemand hat die Absicht, die Bürger zu belügen, zu betrügen und zu manipulieren.

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